Wanderarbeinehmers in der EU

Aicha Zergani und Hicham Bouricha Bürgerrechte in der EU, WT 00/01


Rechtssache C-179/98

Belgischer Staat gegen Fatna Mesbah
“Kooperationsabkommen EWG – Marokko - Artikle 41 Absatz 1 – Grundsatz der Nichtdiskriminierung im Bereich der sozialen Sicherheit – Persönlicher Anwendungsbereich”
(Vorabentscheidungsersuchen der Cour du travail Brüssel)

Sachverhalt:

Frau Mesbah, die Klägerin des Ausgangsverfahrens (im folgenden: Klägerin), hatte am 22. März 1995 eine Beihilfe für Behinderte beantragt. Zu dieser Zeit war sie marokkanische Staatsangehörige. Nach Angaben des vorliegenden Gerichts wohnte sie seit September 1985 in Belgien und gehörte dem Haushalt ihres Schwiegersohns und ihrer Tochter an, die “ wie es scheint Mitte der siebziger Jahre” die belgische Staatsangehörigkeit erworben hatten.
Am 8. März 1996 lehnten die zuständigen belgischen Behörden den Antrag der Klägerin mit der Begründung ab, sie erfülle nicht das Staatsangehörigkeitserfordernis des Artikels 4 Absatz 1 des Gesetzes vom 27.Februar 1987.

Am 22. März 1996 erhob die Klägerin gegen diesen Bescheid Klage beim Tribunal du travail Nivelles und machte einen Verstoß gegen Artikel 41 Abs.1 des Abkommens geltend.
Mit Urteil vom 16.Mai 1997 erklärte das Tribunal de travail Nivelles die Klage für begründet und hob den Bescheid, mit der der Klägerin die Behindertenbeihilfe verweigert wurde, auf.

Am 15. Juni 1997 legte der belgische Staat bei der Cour de travail Brüssel Berufung ein mit der Begründung, daß die Klägerin marokkanische Staatsangehörige sei und daher nach dem belgischen Gesetz keinen Anspruch auf die beantragte Beihilfe habe.
Die Cour de travail stellt fest, daß nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes (vgl. insbesondere Urteile vom 31. Januar 1991 in der Rechtssache C-18/90, Kziber Slg. 1991, I-199, und vom 20. April 1994 in der Rechtssache C-58/93 Yousfi, Slg. 1994, I-1353) Artikel 41 Abs. I unmittelbare Wirkung habe, so daß sich die Klägerin vor den nationalen Gerichten auf diese Vorschrift berufen könne. Nach dieser Rechtsprechung falle eine Behindertenbeihilfe wie die gemäß dem belgischen Gesetz vom 27. Februar 1987 in seiner geänderten Fassung in den sachlichen Geltungsbereich dieser Vorschrift.
Die Cour de travail in Brüssel hat dem Gerichtshof mit Urteil vom 11.Mai 1998, bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen am 15.Mai 1998, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag ( Artikel 234 EGV) zwei Fragen nach der Auslegung des Artikels 41 Absatz 1 Kooperationsabkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Königreich Marokko, zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Kann sich ein Familienangehöriger eines ursprünglich marokkanischen Arbeitnehmers, der später die belgische Staatsangehörigkeit erworben hat, weiterhin auf Artikel 41 Abs.1 des am 27. April 1976 in Rabat unterzeichneten Kooperationsabkommens der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Königreich Marokko, berufen und zu seinen Gunsten das darin enthaltene “Verbot der Diskriminierung marokkanischer Arbeitnehmer und der mit ihnen zusammenlebenden Familienangehörigen” geltend machen?

2. Welchen Grad der Verwandtschaft – in gerader und/oder Seitenlinie – erfordert der Begriff der Familie in Artikel 41 Absatz 1 des Abkommens EWG – Marokko? Findet er auch auf Personen marokkanischer Staatsangehörigkeit Anwendung, die nur verschwägert sind?

Schlußanträge des Generalanwalts:

1. Ein Familienangehöriger eines ursprünglich marokkanischen Arbeitnehmers, der später die belgische Staatsangehörigkeit erworben hat, kann sich weiterhin auf Artikel 41 Abs.1 des Kooperationsabkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Königreich Marokko berufen und zu seinen Gunsten das darin enthaltene Verbot der Diskriminierung marokkanischer Arbeitnehmer und der mit ihnen zusammenlebenden Familienangehörigen geltend machen, allerdings nur, wenn der Arbeitnehmer seine marokkanische Staatsangehörigkeit zusätzlich zur belgischen behalten hat.






2. Auch eine in aufsteigender Linie verwandte bzw. verschwägerte Person kann als Familienangehöriger im Sinne des Abkommens EWG-Marokko angesehen werden. Es ist Sache
des nationalen Gerichts, zu entscheiden, ob im Hinblick auf den Grad der Verwandtschaft, die Gründe, Intensität und Dauer des Zusammenlebens mit dem Arbeitnehmer ausreichen, einen Anspruch im Sinne von Artikel 41 Absatz 1 des Abkommens zu begründen.




Urteil des Gerichtshofs:

1. Ein Familienangehöriger eines Wanderarbeinehmers marokkanischer Staatsangehörigkeit, der die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaates erwirbt, bevor der Familienangehörige beginnt, mit ihm in dem betreffenden Mitgliedstaat zusammenzuleben, und bevor er nach den Rechtsvorschriften dieses Staates eine Leistung der sozialen Sicherheit beantragt, kann sich nicht gestützt auf Art. 41 Abs.1 des am 27.April.1976 in Rabat unterzeichneten Kooperationsabkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Königreich Marokko, im Namen der Gemeinschaft genehmigt durch die Verordnung (EWG) Nr 2211/78 des Rates vom 26.Sept.1978 (ABI. L 264, S.1), auf die marokkanische Staatsangehörigkeit dieses Arbeitnehmers berufen, um in den Genuß des in dieser Vorschrift aufgestellten Grundsatzes der Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit zu kommen.Ein solcher Familienangehöriger eines marokkanischen Wanderarbeitnehmers könnte sich, wenn dieser auch die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats besitzt, zum Zweck der Anwendung des Art. 41 Abs.1 des Abkommens auf die marokkanische Staatsangehörigkeit des Arbeitnehmers nur gemäß dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats berufen, dessen Auslegung und Anwendung aber allein Sache des nationalen Gerichts im Rahmen des bei ihm anhängigen Rechtsstreits ist.


2. Der Begriff “Familienangehöriger” des marokkanischen Arbeitnehmers im Sinne von Art. 41 Abs. 1 des Abkommens erstreckt sich auf die Verwandten in aufsteigender Linie des Wanderarbeitnehmers und seines Ehegatten, die mit dem Arbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat zusammenleben.

Anmerkungen:

_ ”Diskriminierung wegen der Nationalität hinsichtlich Sozialrechte”

_ Der EuGH äussert sich zu einer neuen Lage doppelter Nationalität und
bezüglich des Umfanges eines Konzeptes” des Familienmitgliedes”


_ In ihrer Erklärung zu dem Begriff “Familienangehörige” im Art.65 Abs.1 des neuen Abkommens haben die Parteien vereinbart : < Es wird davon ausgegangen, dass der Begriff “Familienangehörige” im Einklang mit den Rechtsvorschriften des betreffenden Aufnahmelandes bestimmt wird